Kurt Raddatz: Auch mit 100 stets ein Lied auf den Lippen
Veröffentlicht von TS in Zeitungsbericht · Mittwoch 12 Okt 2022
Von Waltraud Günther
Baiersbronn - Frohgemut, freundlich und stets ein Lied auf den Lippen: So kennt man Kurt Raddatz in Baiersbronn. An diesem Donnerstag feiert er seinen 100. Geburtstag.
Geboren wurde der rüstige Jubilar am 13. Oktober 1922 in Kaffzig, Kreis Rummelsberg, in Pommern. Nach seinem Realschulabschluss besuchte Raddatz die Lehrerbildungsanstalt. Nach erfolgreicher Prüfung konnte der junge Lehrer allerdings den Schuldienst nicht antreten, musste er sich doch bereits am nächsten Tag in Stralsund zum Arbeitsdienst einfinden. "An meinem 19. Geburtstag führte mich der Stellungsbefehl an die Front", erinnert sich Raddatz an diese schwierige Zeit. Am Tag vorher sei er in die Schreibstube gerufen worden. Er habe erwartet, dort einen Urlaubsschein für seinen morgigen Geburtstag zu erhalten, denn: "Zuhause wartete Mutter mit einem Kuchen auf mich."
An die Front nach Kiew
Doch statt nach Hause zu dürfen, musste er mit dem Zug über Berlin und Breslau an die Kriegsfront nach Kiew fahren. Seine Militärzeit begann dort mit einer gemeinsamen verordneten "Besichtigung", bei der die Neuankömmlinge in die Schlucht geführt wurden, in der wenige Tage zuvor 15 000 Juden erschossen worden waren. Raddatz war erschüttert, musste er doch an den jüdischen Arzt denken, der ihm als Kind bei einer schweren Erkrankung das Leben rettete und für seine Behandlung mitten im kältesten Winter 15 Kilometer mit dem Pferdeschlitten angefahren kam.
In Gefangenschaft
Bitterkalt war es auch in Raddatz’ erstem Kriegswinter: "Bei uns Soldaten gab es viele erfrorene Füße", erinnert er sich. Seinen Dienst absolvierte er bei der Funkertruppe. Im Winter 1944 geriet seine Kompanie in Kriegsgefangenschaft; fünf Jahre lang musste er als Kriegsgefangener in Georgien Zwangsarbeit verrichten. Unter widrigsten Bedingungen: "Wir bekamen zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig", beschreibt er diese schwere Zeit, in der er als Bauhandlanger Barackensiedlungen errichten musste. Erst im Oktober 1949 endete seine Kriegsgefangenschaft, Raddatz wog damals nicht einmal mehr 50 Kilogramm.
Seine ihm damals zugewiesene Lehrerstelle in Pommern konnte er natürlich nicht mehr antreten. Stattdessen führte ihn sein Weg nach Rottenburg am Neckar. Über viele Umwege hatte er erfahren, dass dort seine Mutter und sein acht Jahre jüngerer Bruder Paul auf ihn warteten. Zwei Wochen dauerte die Fahrt nach Westen, zusammen mit 80 Mann in einem geschlossenen Viehwaggon. Einmal täglich bekam jeder ein Stück trockenes Brot und Wasser.
Mit seinem Entlassungsschein meldete sich der junge Lehrer sofort beim Tübinger Schulamt. "Mein Berufsleben begann am 16. Januar 1950 in Hallwangen", erinnert er sich. Da er über keinerlei Hausrat verfügte, wurde er einfach in das Arbeitszimmer des Hallwanger Lehrers einquartiert. Dass der Anfang schwer gewesen sein muss, zeigt sich in seinen Erzählungen: "Gott sei Dank, es war schon Februar, die erste Klasse konnte schon lesen und schreiben", so Raddatz. Zudem lobt er alles als wunderbar geordnet.
Auch mit den Schülern – 60 Kinder in Klasse eins bis acht besuchten damals die Hallwanger Schule – kam er gut zurecht. Danach musste er für den erkrankten Lehrer der Schule in 24-Höfe einspringen, ehe er am 1. September 1950 nach Obertal und später nach Baiersbronn versetzt wurde. Er sei ein guter Lehrer gewesen, streng, aber man habe bei ihm viel gelernt, erinnern sich seine Schüler bis heute.
Geige als Herzenswunsch
Einen Herzenswunsch hatte Raddatz in seine neue Heimat mitgenommen: "Ich habe mir als Kind immer gewünscht, Geige zu spielen. Endlich habe ich dann zu Weihnachten eine Geige bekommen. Aber für Unterricht reichte das Geld nicht mehr, und dann war Krieg, und die Geige war verloren." In Baiersbronn konnte er sich diesen Traum endlich erfüllen.
Dort lernte er auch seine spätere Ehefrau Hanne, eine Kollegin, kennen und lieben. In Baiersbronn baute sich die junge Familie ein Eigenheim. Dabei kamen ihm seine Erfahrungen als Zwangsarbeiter zugute. Zwei Kinder, vier Enkelkinder und zwei Urenkel gehören heute zur Familie. Ehefrau Hanne verstarb bereits 1997.
"Meine Liebe zu Musik und Gesang führte mich zum Männerchor Obertal", sagt Raddatz zu seinen Hobbys. Im Jahr 1961 übernahm er den Chor, den er mit viel Engagement und Begeisterung fast 30 Jahre leitete. Bis zum Beginn der Pandemie war er aktiver Sänger, heute hat der Ehrenchorleiter des Männerchors "den Genuss des Zuhörens" für sich entdeckt. Welch’ hohes Ansehen Raddatz im Kreise seiner Sangesfreunde genießt, macht Vorstandsmitglied Heinz Seuthe deutlich. Er beschreibt den Jubilar als "sehr guten Dirigenten", der nicht nur Dirigent und Sänger, sondern stets auch ein charakterliches Vorbild im Männergesangverein sei. Die Aufzählung seiner Charaktereigenschaften ergänzt Lebensgefährtin Irmgard Stahl: "Kurt hat eine sehr liebevolle Art, ist gebildet und natürlich; und man kann sich immer auf ihn verlassen."
Sein hohes Lebensalter führt Raddatz auch auf seine gesunde Lebensweise, vor allem aber auch auf die Ernährung zurück: "Im Krieg und in der Gefangenschaft hatten wir nie genug zu essen, wir waren nie satt. Aber wir hatten früher gesunde Kost, viele natürliche Lebensmittel." Stets habe er viel Gemüse und Kartoffeln und wenig Fleisch und Zucker gegessen. Dazu nie geraucht und kaum Alkohol getrunken. Zudem sorgten Haus, Garten und die vielen Treffen für tägliche Bewegung.
Schöne Urlaubsreisen
Raddatz versorgt sich bis heute weitgehend selbst, liebevoll unterstützt von seinen entfernt wohnenden Kindern und seiner Lebensgefährtin. Sein "Irmchen", wie er sie nennt, hat er vor über 20 Jahren zufällig auf einer Fahrt in die alte Heimat kennengelernt. Seither sind die beiden ein Paar, allerdings mit getrennten Wohnsitzen. "Sie hat ihr Haus in Dornstetten, und ich meines hier, jeder hat sein Reich", berichtet er strahlend. Wenn immer möglich, verbringen die beiden ihre Freizeit zusammen, bis vor wenigen Jahren unternahmen sie gemeinsam auch noch viele schöne Urlaubsreisen.